Die Spieleindustrie hat sich in der Gegenwart in einen routinierten Trott eingeübt. Jeden zweiten Monat erscheint ein grösseres Spiel mit mehreren kleinen Werken dazwischen gestreut. Mit Ausnahme der Sommermonate, wo die Veröffentlichungen für eine Zeit eher spärlich werden, befindet sich die Industrie aber auch die Fans in einem regelmässigen Ablauf an Vorfreude, Diskussion und relativ gleich danach dem Vergessen der jeweiligen Titel.
Doch gelegentlich erscheint ein Werk, bei dem schon im Vornherein klar ist, dass er länger in den Köpfen verweilen wird. Ein Spiel, was bereits Jahre bevor noch erstes Gameplay in die Augen der Spieler strömt, unendlich viel Hype und Erwartungen erfährt. Es bildet sich fast schon kultartiges Begehren nach kleinsten Bröckchen an neuem Material und Informationen bis schliesslich das Spiel schneller da ist als man dachte. Cyberpunk 2077 ist genau ein solches Werk.
Doch leider folgt mit grosser Erwartung und Vorfreude heutzutage viel Negatives. Der Diskurs um solche Spiele ist mittlerweile sehr anstrengend geworden, weil aus dieser Hypekultur immer drei Teilfraktionen geboren werden.
Die erste Gruppe sind Leute, die das Spiel einfach nur als positiv rezipieren und denen jegliche Kritik egal zu sein scheint. Dies führt zu einer sehr unproduktiven Ansicht des Spieles, da es unnötig glorifiziert wird und jegliches Verbesserungspotenzial unter Schwällen an Lob und Entschuldigung verloren geht.
Die zweite Gruppe besteht aus den Menschen, die so angenervt von dieser Vorfreude und Popularität des Spieles sind, dass sie es um jeden Preis versagen sehen müssen. Sie beginnen die negativen Teilfaktoren eines Spieles unvernünftig gegen die positiven aufzuwiegen, um sich selbst bestätigt zu sehen.
Die dritte Gruppe sind diejenigen, die sich aus irgendeinem Grund an externen Faktoren stören, die eigentlich gar nichts mit dem Endprodukt selbst zu tun haben. Diese Gruppe überträgt seinen Frust auf das Werk, um diesem damit Ausdruck zu verleihen. Die beiden letzten Gruppen geben dem Spiel für sich eine unwahr negative Erscheinung aus einer persönlichen Absicht heraus, die allgemeine Haltung gegenüber diesem zu negativieren.
Generelle Rezeption ist wichtig, wenn nicht sogar essenziell für die Spieleindustrie. Sie bestimmt, zusammen mit der finanziellen Seite, wie Spiele in Zukunft aussehen sollen und werden. Doch bei diesen besonders populären Spielen, wie sie nur alle paar Jahre auftreten, ist diese Rezeption fast komplett unbrauchbar geworden, weil sie in einer Flut aus unvernünftigen, unreflektierten und manipulativ-subjektiven Ansichten ertrinkt. Die so wichtige und produktive Objektivität geht verloren.
Diese kleine Exkursion sollte eigentlich nur einen wichtigen Fakt unterstreichen: Reflexion und die richtige Gewichtung gewisser Faktoren in und um ein Werk herum ist essenziell für die Spieleindustrie als Ganzes. Denn nur so kann sich ein produktiver Konsens aus dem gesamten Diskurs herauskristallisieren.
Wurden Cyberpunk 2077 und die Entwickler des Studios CD Projekt Red von dessen Management und Business-Abteilung vollkommen falsch und eigentlich schon unethisch behandelt? Ja. Wurde der Entwicklungsprozess und die Umsetzbarkeit auf die alte Konsolengeneration falsch einkalkuliert, sodass die Technik inakzeptabel auf diesen Geräten ist? Ja. Ist Cyberpunk 2077 als Spiel, abgetrennt von diesen Hintergrundproblematiken ein miserabler Titel geworden? Nein. Zieht die sehr schwache Technik auf der Basis PS4 und Xbox One die generelle Spielqualität soweit hinunter bzw. muss man sie so stark gewichten im Bild der Gesamtqualität, dass das Spiel als «schlecht» oder auch nur als «passabel» zu bezeichnen ist? Hier lest ihr die Antwort.
Verwebungen, Verbindungen und Vertikalität
Nachdem nun dieser ganze Ballast, der am eigentlichen Spiel hängt aus dem Weg geschafft wurde, kann man ungehindert das Spiel selbst betrachten. Cyberpunk 2077 ist ein sehr aussergewöhnliches Spiel, dass versucht in mehreren Bereichen weiterzugehen, als sonst irgendein Werk zuvor. Dies bringt auch Abstriche mit sich, die man dafür in Kauf nehmen muss und die sich hier vor allem in seiner technischen Qualität äussert. Jedoch ist dies ein sehr guter Kompromiss, denn die technischen Unfeinheiten, zum Beispiel leichtere Probleme wie Framerateeinbrüche oder aufploppende sowie gelegentlich fliegende Gegenstände oder schwerere Bugs wie unabschliessbare Quests oder verschwundene NPCs, vermögen der unglaublichen Ambition von Cyberpunk 2077 und wie es diese Ambition zu erfüllen vermag kaum an Eindrücklichkeit abzutun.
Die Stichworte, an denen hier hauptsächlich designtechnisch festgehalten wird sind «Interkonnektivität und Dichte». Cyberpunk 2077 geht, nicht wie eigentlich im Open-World Genre üblich, in die Breite, sondern orientiert sich in die Höhe, die Vertikalität. Sowohl Quest- als auch Weltdesign sind nicht ausschweifend divers und breit gelagert, sondern enger zusammengeschnürt und oft kausal voneinander abhängig. Tätigkeiten in der Welt sowie wie man mit den Sidequests umgeht hat wiederum einen Einfluss auf die anderen Tätigkeiten und Quests. Die Illusion einer massiven Interkonnektivität wird geschaffen und bereitet damit ein Gefühl von nahezu perfekter Immersion und Freiheitsgefühl. Protagonist V wird plötzlich an einem Ort von jemandem wieder erkannt, oder an noch einem anderen eine seiner Erlebnisse von früher erwähnt und entsprechend darauf reagiert. Was CD Projekt Red mit The Witcher 3 schon eindrücklich präsentiert hat, nimmt hier ausserordentliche Ausmasse an und ist das Fundament worauf jegliches Design von Cyberpunk 2077 beruht: Konsequenz und Spielerfreiheit, innere Verbundenheit und kausale Abhängigkeit. Doch während sich dies bei The Witcher 3 noch in vereinzelten und in sich abgeschlossenen Quests und Orten äusserte, zeigt sich die Konsequenz in Cyberpunk 2077 plötzlich in vollkommen anderen Bereichen. Während RPGs eigentlich Konsequenz eher als ein grosses Feld behandeln, wo isolierte Quests sich selbst beeinflussen, ist Cyberpunk 2077 ein hoher Baum, in dem selbst die äussersten Äste ein Teil des grossen Ganzen auszumachen scheinen. Hier beweist CD Projekt Red ein hervorragendes Gefühl für Voraussicht und Spielerintuition. Konsequenz und die Interkonnektivität hat noch nie so ein Ausmass erreicht.
Träume und Wahrheiten
Damit diese innere Verwebung der vielen verschiedenen Geschichten in dem Spiel auch emotionale Involvierung erzeugen kann, ohne billig und künstlich zu wirken, müssen diese aber auch eine hohe Qualität haben. Die Schwierigkeit bei so einer riesigen Vision wie Night City ist aber, dass diese Geschichten alle eine Grundstimmung, passende Motive und vor allem eine innere Logik aufweisen müssen, sowohl in der Hauptstory, in den Nebengeschichten, der Hintergrundgeschichte, aber auch in den Gameplaymechaniken. Doch auch hier brilliert Cyberpunk 2077. Es ist eine wahre Freude sich zuerst in die Datenbank über die grandios detaillierte Lore von der Welt einzulesen und diese dann danach in ähnlich prächtig ausgearbeiteter Weise in jeder noch so kleinen Ecke des Spieles repräsentiert zu sehen. Von den wichtigsten Elementen wie den zahlreichen Geschichten in Night City bis in Kleinigkeiten wie Werbeplakate, Musik, Radiodurchsagen oder einfach Magazine, die unter einer Brücke auf dem Boden liegen: Cyberpunk 2077 ist ein grossartig kohäsives Werk einer riesigen Ambition. Alles stimmt und sitzt an den richtigen Orten, sowohl narrativ wie auch spielmechanisch.
Night City ist eine Stadt der Wiedersprüche und des Endstadiums von Kapitalismus und Digitalisierung. Träume, Glorie und Luxus prallen zusammen mit Scheitern und dem Abgrund der Menschlichkeit inmitten der glitzernden Wolkenkratzer, die gleichgültig auf die Armut hinunterblicken, verlockend aber unerreichbar. Doch zwischen diesen grossen Thematiken vermag aber trotzdem CD Projekt Reds Talent (aber auch Problematik) für die Charakterschreibe durchzuscheinen. Die Figuren sind alle lebendig und mit Tiefe aufgeladen, die Geschichte nimmt sich immer wieder erstaunlich viel Zeit eine Wärme und Liebe für die kleinen Probleme und Beziehungen dieser aufzuarbeiten. Und genau dadurch katapultiert sich eine ohnehin schon enorm abgeschliffen kohäsive und greifbare Spielwelt zu den Höhen der immersivsten Spielewelten hinauf.
Night City ist eine Dystopie in einer Utopie. Beides trifft aufeinander und zeigt, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Kontraste und Extreme werden dem Spieler nur so ins Auge gebrannt. Night City ist der Höhepunkt der Technologie und Bequemlichkeit, jedoch sind die Menschen so abgestumpft von der Reizüberflutung, dass die Welt mit ekligster Pornografie und Drogenkonsum nur so zugepflastert ist, weil nur noch diese Radikalität die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen vermag. Hier sollte betont werden, dass dieser Fokus auf genau diese Extreme, die dazu dient diesen Kernpunkt des Cyberpunk-Genres aufzuzeigen, von gewissen Spielern als sehr unangenehm empfunden werden kann. Vor allem da die Sexualität in Cyberpunk 2077 aus einer stark männlich und auch konservativ geprägten Sichtweise inszeniert ist und daher in gewissen Hinsichten fast schon zu Sexismus oder zur Transphobie neigt. Die Frau ist hier offensichtlich der Zentrum der Sexualisierung und dies fast schon einseitig, Transsexualität wird ebenfalls fast schon fetischisiert. Eine verpasste Chance für CD Projekt Red und sehr problematisch.
Wenn man aber über diese Dinge hinwegzusehen vermag (gewiss aber nicht zu ignorieren) dann bietet Night City, zusammengenommen mit all den Geschichten und Figuren die da drin stecken, ein unglaubliches Mass an Immersion. Sehr klug war ebenfalls die Entscheidung, das Ausmass der Hauptgeschichte ein wenig zu entschärfen und diese stattdessen mit den Nebengeschichten in eine Symbiose zu setzen. Die Hauptgeschichte allein ist lediglich zwanzig Stunden lang, erfährt jedoch sehr viel Einfluss von allen Dingen, die darum herum passieren. Doch genau damit unterstützt Cyberpunk 2077 die Spielerfahrung, die es erzielen will: Es geht nicht um die eine Geschichte und dessen Intensivität, sondern um die Gesamtheit des Alltags und der Atmosphäre in Night City und wie dieses vom Spieler geformt und beeinflusst wird.
Von Gewichtungen, Gameplay und Grafik
Am Anfang wurde erwähnt, wie wichtig die richtige Gewichtung der Qualitätsfaktoren für jedes einzelne Spiel individuell ist. Man muss jedes Spiel in seinem Kontext und seiner Absicht betrachten und dann vernünftig und begründet überlegen, wie sehr welche Elemente Einfluss auf die letztendliche Rezeption des Spiels üben. Was Cyberpunk angeht rangiert das Gameplay definitiv hinter dem ganzen narrativen Komplex. Doch überraschenderweise fällt dieses sehr solide und sogar tiefgehend aus. Natürlich ist die eigene Vorgehensweise und dass alle Formen dieser unterstützt werden zentral und solide ausgeführt, auch wenn doch in gewissen Momenten ein Überhang zur Action herrscht und weniger zum pazifistischen Vorgehen. Doch die grundlegenden Shooter-, Stealth und Hackingmechaniken sind ebenfalls sehr befriedigend und gut. Sie wirken manchmal etwas archaisch, Schiessen fühlt sich gelegentlich etwas steif, Stealth und Hacken etwas simpel und banal an, doch auch hier wurde ein guter umsetzbarer Kompromiss zwischen allen Spielweisen gefunden. Vor allem die Progression weiss hier zu überzeugen. Jeder investierte Skillpunkt, jedes der vielfältigen Upgrademöglichkeiten bringt eine substanzielle Verbesserung und individuelle Anpassung des Spielgeschehens.
Rein technisch wurde vermutlich bereits alles in der Einleitung gesagt, was gesagt werden muss. Cyberpunk 2077 sieht auf den Next-Gen Konsolen selbstverständlich nicht so brachial aus wie ein linearer Blockbuster. Doch es sieht immer noch atemberaubend gut und vor allem detailliert aus, wenn man die Komplexität und schiere Dichte der Spielwelt nicht ausser Acht lässt. Gewisse Bugs und Glitches sind dabei nicht ganz so entschuldbar vor allem die, die einen Quests nicht abschliessen lassen oder das Spiel zum Absturz bringen können. Jedoch gibt es wiederum eine zentrale Frage, die sich hier gestellt werden muss: Ändert dies substanziell viel an der einzigartigen Spielerfahrung? Ist ein Frameeinbruch oder eine fliegende Waffe in der Spielwelt so hoch zu gewichten, dass das Spiel enorm viel an Endqualität einbüsst? Letztendlich muss natürlich jeder vernünftig für sich selbst entscheiden wieviel Wert er oder sie auf diese Äusserlichkeiten und Oberflächlichkeiten legt. Wer das Spiel nicht mögen möchte, findet hier sicherlich einen Anlass dafür.